
ICH HATTE MIR DAS ANDERS VORGESTELLT
Im Mai 2010 war ich 25 Jahre alt und studierte in Greifswald. Ich wollte schon seit langem andere AutorInnen kennenlernen. Aber wie stellt man das an? In Greifswald findet einmal im Jahr das Festival Nordischer Klang statt. Jemand fragte mich: »Willst du einen Autoren betreuen? In Dänemark ist er mega bekannt! Und er schreibt über Drogen und Gewalt!« Das war meine Chance. Also sagte ich zu.
Ein paar Wochen später holte ich Jonas T. Bengtsson vom Bahnhof ab, wir aßen Döner, tranken Bier und abends las er aus seinem Buch. Am nächsten Tag sollte er wieder mit dem Zug nach Berlin fahren, um von da aus nach Kopenhagen zu fliegen. Dabei hatten wir noch gar nicht wirklich miteinander reden können, weil ständig irgendjemand etwas von ihm wollte. Ich holte ihn also vom Hotel ab und in der Hoffnung, noch drei ganze Stunden mit ihm reden zu können, sagte ich: »Vergiss den Zug! Ich fahre dich mit dem Auto nach Berlin!«
Er sagte zu und ich war so nervös wie vielleicht noch nie zuvor. (Würden wir Freunde werden? Würde er mir später helfen, wie auch immer, einen Verlag zu finden? Würde er mir verraten, wie man es, gottverdammt noch mal, fertigbringt einen Roman zu schreiben?)
Wir saßen gerade einmal eine knappe Stunde im Auto und das, was unser Gespräch hätte werden sollen, war noch nicht so richtig in Gang gekommen, da hörten wir ein Klackern. Zehn Sekunden später rollte mein Škoda (Bj. 1996, ein Großväterchen von Auto) die letzten Meter seines Lebens. Wir saßen fest, irgendwo auf der A20 kurz vor Neubrandenburg.
Wir warteten im Regen auf einen Abschleppwagen. Wir schwiegen. Wir wurden abgeschleppt. Wir saßen im Büro des Abschleppunternehmens in Autobahnnähe und warteten auf ein Taxi, das uns in die Stadt bringen sollte. Jonas würde seinen Flug nach Kopenhagen verpassen und das nächste Flugzeug würde erst am folgenden Morgen starten. Ob ich ihm dann ein Hotelzimmer von zuhause aus buchen könnte, ein Zimmer in Berlin? Kein Problem. (Ich verschwieg, dass an diesem Tag das Finale des DFB-Pokals in Berlin war, weil ich dachte: Ich find schon ein Zimmer für ihn, ich krieg das hin!)
Kurz bevor das Taxi kam, holte er ein Buch aus seinem Rucksack, schrieb mir eine Widmung hinein und schenkte es mir.
Zuhause, während er im Zug nach Berlin saß, rief ich bei einem Hotel an, bei noch einem und erst beim dreizehnten oder vierzehnten hatte ich Erfolg. Ich gab Jonas die Adresse per SMS und hoffte das Beste.
Am nächsten Abend schrieb er mir: Eine tote Ratte habe im Flur des Hotels gelegen, Kondomautomaten hätten dort gestanden. Aber das Bett sei in Ordnung gewesen. Ihm gehe es gut.
Meinen Škoda habe ich nie wieder gesehen. Er wurde auf Geheiß meiner Mutter vor Ort verschrottet. Jonas und ich sind keine Freunde geworden.
Aber das ist schon in Ordnung so.

WENN ES KALT IST
Jedes Jahr auf Neue, von November bis zum Beginn der Schonzeit im Februar, schreibe ich viel weniger als sonst. Diese Zeit ist dem Angeln vorbehalten. Die Raubfische werden in ein paar Monaten laichen – das kostet Kraft, und weil dem so ist, und die Fische das entweder ahnen oder ganz einfach im Blut haben, legen sie sich in den Monaten zuvor, wenn die Wassertemperaturen fast unaufhörlich sinken, Fettreserven für diese anstrengende Zeit an. Und so fressen Zander und Hechte, auf die ich es vor allem abgesehen habe, nun an einem Tag vielleicht so viel wie sonst in einer Woche.
Ich bin oft auf dem Wasser in dieser Zeit, werfe meine Köder aus, Gummifische zumeist, und trinke Kaffee aus der Thermoskanne, stark und schwarz. Angenehm ist es nicht, Anfang Dezember bei minus vier Grad auf einem kleinen Boot zu sitzen. Aber irgendwann, wenn ich den Ruck in der Rute spüre, die Kraft am anderen Ende der Schnur, wenn ich einen großen Hecht drille und er nach ein paar Minuten im Kescher landet – dann kommt es vor, dass ich so viel Glück empfinde, dass ich laut schreien muss.
Abends, wieder zuhause, müde und ausgelaugt von einem Tag auf dem Wasser, schneide ich Filets aus den Fischen, tippe Einladungen zum Fischessen in mein Handy und später, wenn ich im Bett liege, noch das ewige Schaukeln des Bootes im Kopf, so als hätte ich einen Schnaps zu viel getrunken, liegt mir nichts ferner als vor meinem Laptop zu sitzen und zu schreiben.

DER, DEN SIE MEHMET NANNTEN
Deniz Utlu, einer der Beitragenden der Anthologie Wir. Gestern. Heute. Hier., hat seinen dort veröffentlichten Text in Auszügen im Tagesspiegel veröffentlicht. Wer die Bezahlschranke dort nicht überschreiten möchte, kann den Anfang von Deniz' Text auch auf seiner Homepage lesen. Oder kauft sich gleich das Buch.

WIR. GESTERN. HEUTE. HIER.
Warum eine Anthologie herausgeben? Wenn mich etwas umtreibt und ich an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter weiß, dann frage ich andere. Das war schon so zu Schulzeiten, als ich an naturwissenschaftlichen Fächern verzweifelte. Oder später, als ich nicht wusste, was ich studieren sollte, oder noch später, als ich mich fragte, wie um Gottes willen man es fertigbringt, einen Roman zu schreiben. Immer gab es den einen oder anderen Menschen, der mir weiterhalf oder zumindest in die richtige Richtung zeigte. Eine Anthologie herauszugeben, das bedeutet für mich vor allem dies: Ich frage andere um Rat. Ich frage sie: Wie habt ihr das damals erlebt? Wie habt ihr dieses oder jenes überwinden können? Und so weiter. Das war so bei Wie wir leben wollen im Jahr 2016. Und nun, vier Jahre später, haben sich die Zustände weiter zugespitzt:
Das politische Wertesystem Deutschlands ist dabei, sich radikal zu wandeln. Das treibt mich, wie so viele andere, seit langer Zeit um. Es fehlt nicht mehr viel und die einstigen Volksparteien werden von den Grünen und der AfD überholt. Beide, Grüne und AfD, stehen sinnbildlich für die zwei gesellschaftlichen Pole, die sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen – freiheitlich, zukunftsweisend sowie konservativ bis völkisch. In dieser Entwicklung zeigt sich die Ambivalenz innerhalb der Bevölkerung Deutschlands, von Offenheit auf der einen und Ängsten auf der anderen Seite. Woher kommen diese unterschiedlichen Wertevorstellungen? Und wie lässt sich diese politische Entwicklung begreifen? Wie hast du das erlebt, damals, als du Kind warst, Heranwachsender, bei dir zu Hause?
Ich glaube fest daran, dass man die Gegenwart besser begreifen kann, wenn man sich mit der Vergangenheit beschäftigt. Dass dem so ist, haben mir nicht zuletzt die 19 AutorInnen mit ihren Texten in der soeben herausgekommenen Anthologie Wir. Gestern. Heute. Hier. gezeigt. Mal sind sie essayistisch, mal fiktiv, mal ganz klar autobiografisch. Sie alle vereint der Blick zurück und die Frage: Wie, verdammt noch mal, konnte es nur so weit kommen?
Danke für eure Hilfe, Lene Albrecht, Christian Bangel, Jan Böttcher, Helene Bukowski, Micul Dejun, Ulrike Draesner, Lara Hampe, Miku Sophie Kühmel, Katerina Poladjan, Lukas Rietzschel, Kathrin Röggla, Daniel Schulz, Julia Schoch, Antje Rávik Strubel, Stephan Thome, Deniz Utlu, Senthuran Varatharajah, David Wagner und Peter Wawerzinek.

WARUM SCHREIBST DU?
Warum schreibst du?
Diese Frage wurde uns zu Beginn unseres Studiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig gestellt. Ich saß mit fünf anderen Schreibenden in einem kleinen Seminarraum und wusste keine Antwort darauf.
Warum schreibst du?
Jemand lächelte und sagte mit polierter Stimme: Weil ich von Gott auserwählt bin.
Ich hatte mit niemandem bis dahin auch nur ein Wort geredet. Es war unsere allererste Veranstaltung in einer neuen, ungewohnten Umgebung.
Auserwählt. Von Gott.
Ich wartete auf ein Zeichen, das uns anderen verriet: War nur ein Scherz! Aber dieser Satz blieb stehen. Ein weiterer folgte umgehend: In der Schule war ich immer schon der Beste.
Warum schreibst du?
Ich machte seit Jahren nichts anderes als zu schreiben, konnte aber einfach nicht sagen, warum.
Schließlich war ich an der Reihe.
Warum schreibst du?
Ich sagte, dass ich nie der Beste gewesen sei. Dass ich einmal sitzengeblieben sei, und man mir in der neunten Klasse eindringlich riet, das Gymnasium zu verlassen. Ich sagte, dass ich erst mit achtzehn Jahren zum Lesen gekommen sei, dass ich seitdem fast täglich schrieb, dass es mir wichtig sei, ich aber einfach nicht genau sagen könne, weshalb.
Bis heute sehe ich, wie der von Gott Auserwählte mich anblickt, als hätte ich mich zu einer Obszönität hinreißen lassen, als sei meine Anwesenheit in diesem geweihten Haus eine Provokation.
Warum schreibst du?
Inzwischen sind mehr als zehn Jahre vergangen und als ich kürzlich angelnd am Fluss stand und schon nach kurzer Zeit wieder nach Hause fuhr, um doch lieber weiter an meinem Manuskript arbeiten zu können, da fiel mir die Antwort ein:
Es macht einfach verdammt viel Spaß.

VOM WASSER
Ich kann mich an keine Zeit in meinem Leben erinnern, in der ich nicht, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, ans Wasser gegangen bin. Jedes Mal empfinde ich aufs Neue eine eigentümliche Freude, wenn ich beobachte, was es zu beobachten gibt: Brassen und Döbel, Brotkrumen fressend. Ein Hecht, der reglos zwischen Schilfhalmen steht und auf Beute wartet. Ein Trupp Schleien, den ich, kaum dass ich ihn entdeckt habe, wieder aus den Augen verliere.